Musikmagazin "Pitchfork": Keine Musik auf dieser Beerdigung (2024)

Das Musikportal "Pitchfork" wird eingestellt, seine Reste sollen im Magazin "GQ" aufgehen. Kritischer Musikjournalismus verliert seine wichtigste Plattform. Ein Nachruf

Von Daniel Gerhardt

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Auf der Startseite des Musikportals Pitchfork sah die Welt am vergangenen Donnerstag morgen noch aus, als wäre nichts passiert, und genau darin lag das Problem. Eigentlich veröffentlicht das Magazin an jedem Wochentag drei bis vier ausführliche Rezensionen zu neuen Alben, außerdem Meldungen, Interviews, Bandporträts und Essays. Mehr als 20 Jahre lang war das so, schon als Pitchfork noch unabhängig und halbprofessionell in Chicago und Brooklyn betrieben wurde, aber auch in den Jahren seit 2015. Damals hatte der einstige Gründer Ryan Schreiber das Magazin an Condé Nast verkauft und seiner Belegschaft einen Umzug nach Manhattan in die verlagseigenen Büroräume im One World Trade Center ermöglicht. Oder eingebrockt, wie damals schon manche Beobachter fanden.

Wer sich als Musiknerd in Deutschland am Morgen des 18. Januars aus dem Bett quälte und reflexhaft Richtung Pitchfork steuerte, fand nun aber das Schlimmste vor, was es gibt im Pop: die Rezensionen und News vom Vortag. Erst im späteren Verlauf des Tages erschien zumindest ein neuer Text, vorher hieß es: kein frischer Content auf der Seite, stattdessen Aufregung auf X. Dort wurde eine eigentlich verlagsinterne E-Mail von Anna Wintour herumgereicht, die nicht nur Chefredakteurin des Fashionmagazins Vogue ist, sondern auch Global Chief Content Officer von Condé Nast. Pitchfork werde in das Männermagazin GQ eingegliedert, schrieb Wintour darin, von einem Teil der Belegschaft habe man sich bereits getrennt. Auch Pitchforks bisherige Chefredakteurin Puja Patel gehöre zu den entlassenen Angestellten.

Der Verlag hat zunächst keine weiteren Angaben zu den Kündigungen gemacht, in sozialen Netzwerken hieß es jedoch schnell, dass Condé Nast die Belegschaft des Magazins mindestens halbiert habe. Mehrere leitende Redakteurinnen und Redakteure berichteten auf X von ihren Entlassungen, darunter nicht zuletzt solche, die seit den frühen Nullerjahren für Pitchfork gearbeitet hatten. Auch ehemalige Mitarbeitende des Magazins, andere Musikmedien und zahlreiche Musiker äußerten sich zu den Entwicklungen, meist mit einer Mischung aus Schock, Wut und Unverständnis. Obwohl Condé Nast Ende 2023 einen verlagsweiten Stellenabbau angekündigt hatte, schien das de facto Ende von Pitchfork, sowohl Pop als auch Popjournalismus vollkommen unvorbereitet zu treffen.

Dass Musikmagazine eingestellt werden, hat im Jahr 2024 eigentlich keinen Nachrichtenwert mehr. Schon lange existieren ehemals auflagenstarke Hefte wie New Musical Express, Q Magazine und Spin nur noch als abgespeckte Onlineversionen oder gar nicht mehr. Der journalistisch ambitionierte Musikmarktplatz Bandcamp wurde in den letzten drei Jahren zweimal verkauft, die Belegschaft um 16 Prozent verkleinert.In Deutschland wurde 2018 zunächst die gedruckte Spex und anderthalb Jahre später auch deren Onlineableger beerdigt. Den Rolling Stone und ein gutes Dutzend internationale Versionen gibt es zwar noch, aber vor allem die US-amerikanische Ausgabe versteht sich schon lange nicht mehr als klassisches Musikmagazin. Der Hype um Popblogs und Mitmach-Musikjournalismus ist ohnehin ein Phänomen der Nuller- und Zehnerjahre geblieben.

Pitchfork ist nun nicht nur ein weiterer toter Mitbewerber auf einem Nischenmarkt, sondern es war das zeitweise meistgelesene und sicherlich einflussreichste Musikmagazin der vergangenen 20 Jahre. Man muss keinen einzigen Text des Portals gelesen haben, um dessen Bedeutung zu verstehen: Seit seiner Gründung im Jahr 1996 ist Pitchfork ein Onlinemagazin gewesen, auch nach der Übernahme durch Condé Nast gab es keine Versuche, ein Bezahlsystem einzuführen. Abgesehen von einem vierteljährlichen Coffee-Table-Ableger, der zwischen 2013 und 2016 erschien, ist Pitchfork-Content also gratis und ausschließlich im Internet erhältlich gewesen. Der Napster-Zeitgeist der freien Verfügbarkeit von Musik wurde erst drei Jahre nach dem Start von Pitchfork begründet, ist für das Magazin aber niemals zu Ende gegangen.

Legendär garstige Verrisse

Lukrativ ist Pitchfork vor allem über Bande gewesen: Mit seinem jährlich ausverkauften Festival in Chicago etwa, das Ableger unter anderem in London, Paris und Berlin produzierte und auch nach der Einstellung von Pitchfork weitergeführt werden könnte. Und für Condé Nast natürlich als Imageprojekt, das sich lange Zeit prächtig einfügte im Portfolio neben Vogue, Vanity Fair und New Yorker. Bis zu seinem nun drohenden Ende war der Markenname als Synonym für meinungsstarken und -machenden Musikjournalismus zu verstehen, wenn auch nicht mehr mit der gleichen Autorität wie zu den besten Zeiten des Magazins.

Vor allem in den Nullerjahren galten Pitchfork-Rezensionen und das portaleigene Gütesiegel "Best New Music" als Karrierestarter für Indierock-Gruppen und -Künstler. Bands wie Animal Collective und Broken Social Scene oder der Songwriter Sufjan Stevens brachten es mit eigentlich mainstream-untauglicher Musik auch dank Pitchfork-Unterstützung weit über ihre Genrenischen hinaus. Sogar der Aufstieg von Arcade Fire zur Stadion- und Headlinerband für große Festivals begann mit einer euphorischen Pitchfork-Besprechungihres DebütalbumsFuneral durch den Autor David Moore. Dass die damals noch legendär garstigen Verrisse des Portals auch Karrieren zerstören konnten, ist eine kaum zu erhärtende Behauptung, die sich in Szenekreisen bis heute hält.

In der Frühzeit des Magazins kultivierte Pitchfork einen Schreibstil, den es zuvor höchstens in kleinteiligsten Fanzines gegeben hatte: ausufernde Texte, ungewöhnliche Perspektiven, autofiktionale Ansätze. Mit derbem Humor und jugendlicher Arroganz positionierten sich die Autoren (Autorinnen gab es kaum) gegen die alteingesessene, womöglich betriebsmüde Musikpresse. Deren Kanon aus Beatles, Stones und Led Zeppelin stellten sie eine eigene rockmusikalische Rangordnung entgegen. Dabei ging es jedoch nicht um Korrekturen der überbordend weißen, männlichen und heterosexuellen Geschichtsschreibung. Die entscheidende Abgrenzung lag für Pitchfork zunächst in der Förderung von Indiekünstlern.

Bands wie Pavement, Neutral Milk Hotel und etwas später eben Arcade Fire prägten den Pitchfork-Kanon. Damit war er weniger breitbeinig, aber nicht weniger männlich als die Helden der Konkurrenz. Misslang dem Magazin mal ein Verriss, offenbarte sich außerdem ein Paradoxon: Pitchfork berichtete zwar über Musik, die niemals auf Studentenpartys mit Beerpong und oberkörperfreien frat boys gelaufen wäre, schlug jedoch mitunter einen Ton an, der auf solchen Partys zahlreiche Lacher und High Fives generiert hätte. Erst im Lauf der Jahre professionalisiere sich dieser Ton, unter dem Chefredakteur Mark Richardson öffnete sich Pitchfork für Pop und Hip-Hop und wuchs zu einem schier unergründlichen Archiv des musikalischen Fachwissens heran.

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